I Wander All Night oder Der Schlaf
Wir, die Belebten, sind durch natürliche Tätigkeiten in Zeit und Raum eingebettet. Essen, Trinken, Atmen und die Funktionen der Organe: Wenn wir eine dieser Aktivitäten vernachlässigen, werden wir krank; wenn wir sie, oder sie uns aufgeben, sterben wir. Aber es gibt auch eine lebensnotwendige Sache, die eigentlich eine „Nicht-Aktivität“ ist, nämlich der Schlaf. Dessen Mangel kann auch zu Krankheit oder bei völliger Abwesenheit zum Tode führen. Aus medizinischer Sicht ist die Funktion des Schlafes vor allem wegen ihrer regenerativen Kraft notwendig und lebenserhaltend. Bestimmte Organe arbeiten oder erholen sich im Schlaf. Psychologen betonen die Verarbeitung von Erlebten, Hoffnungen und Ängsten im Schlaf, wobei dem Träumen eine besondere Rolle zu kommt. Messungen unserer Gehirnströme bestätigen es und geben weiter Aufschluss über unsere Schlafphasen.
Träumen wurde in der menschlichen Geschichte eine große Bedeutung zugesprochen: In den früheren Mythen, Religionen und Erzählungen wurde das Träumen, anders als heute, als wichtige Indikation für politische und moralische Entscheidungen wahrgenommen. Der Gilgamesh Epos, die Erzählungen der Bibel – speziell die des Alten Testaments, die griechischen Mythologien oder die Mahabharata Indiens zum Beispiel: Den Deutern und Interpreten der Träume kommt eine wichtige Rolle zu. Schamanen, Seherinnen, Priesterinnen, Orakel und Weise, aber auch begnadete Gefangene haben mit ihren Deutungen der Träume ihrer jeweiligen Herrscherinnen und Herrschern Geschichte und Geschichten geschrieben.
Träume können uns die Welt und uns selbst in und aus allen möglichen Perspektiven zeigen. Und das wortwörtlich. Wir sehen uns von weit entfernt, aus der Luft, von unten, unter Wasser oder sogar auch von innen. Wir sehen ohne Augen. Wir wissen in Träumen, was wir im Wachsein nicht wissen können oder auch wollen, unser Bewusstsein taucht in tiefste Bereiche, holt altes und nie gewusstes Wissen hervor, und wir Träumenden liegen nackt unseren Ängsten und Hoffnungen ergeben da.
Was träumt ein reines Herz? Wir wissen, dass Tiere träumen.
Aber es wird auch von kollektiven Träumen, oder kollektivem Schlaf erzählt. Zum Beispiel Familien haben Träume, die ihnen ein Gemeinsames geben. Ebenso kleinere soziale Einheiten bis zu größeren Staatsgebilden, seien es die United States of America (The American Dream), sei es das Chinesische Großreich oder die EU. Gemeinsame Träume stiften hier Identität und Sinn, oder auch Exklusivität und Abgrenzung. Der gemeinsame politische Schlaf birgt allerdings die Gefahr der kollektiven Unaufmerksamkeit und Ignoranz.
Der Schlaf generell, hier speziell der, der Träume birgt, ist ein sehr wichtiger Teil des umfänglichen 360° Bewusstseins, inkludiert den unbewussten, oder „anders bewussten“ Teil und komplementiert das Bewusstsein mit seinen höheren Sphären. Wer sich den besonderen Moment der Phase zwischen
Schlaf und Aufwachen vergegenwärtigt, stellt eine erstaunliche Klarheit der Informationen fest, die aus dem Tiefenbewusstsein und dem Höheren Bewusstsein zusammenfließen. Unsere Intuition oder Zustände tiefer Meditation sind dieser Sphäre sehr ähnlich.
In der Kunst spielt der Traum natürlich eine zentrale Rolle. Einmal in der Bebilderung der alten Erzählungen, wobei hier den phantastischen Vorstellungen der Alten in der Darstellung keine Grenzen gesetzt sind. Zum anderen erlauben die eigenen Träume den Künstlerinnen und Künstlern selbst, Inspirationen für Bildfindungen zu liefern. Stimmungen, Gefühle, Fragmente oder ganze Traumsequenzen werden zu Bildern. Das kollektive Unterbewusste spiegelt sich in ihnen genauso wieder, wie der Konsens oder Dissens über die alten Erzählungen und dem Mythos, der uns mit seinen vielen Gesichtern immer wieder erzählt wird. Die jungen Künstlerinnen und Künstler haben aus dem wunderbaren Gedicht „The Sleepers“ von Walt Whitman die Zeile „I wander all night“ als Titel für Ihre Klassenausstellung aller Semester im Kunstquartier Bethanien in Berlin ausgewählt. Die Werke zirkulieren um diese Themen Schlaf und Traum aus vielfältigen Perspektiven; und ganz so wie bei Whitman empfangen wir aus ihnen viel Liebe und Zuneigung für uns Schlafende und Träumende.
Christian Macketanz
I Wander All Night
25.-28. April 2024, 10-22Uhr
Kunstquartier Bethanien, Mariannenplatz 2, Berlin
Eröffnung Donnerstag den 25. April um 16 Uhr
mit Laudatio von Laura Helena Wurth